“Die beweinte Zukunft” (1961) als Essay veröffentlicht.
erschienen in der Essaysammlung:
“Endzeit und Zeitende. Gedanken zur atomaren Situation” (C.H. Beck; München, 1972)
“Die atomare Drohung” (C.H.Beck; München, 1981)
http://vimeo.com/medienwerkstattwien/die-beweinte-zukunft
Die Geschichte ist eine Anlehnung an die Bibelgeschichte von Noah und der Sintflut. Im Vergleich zum Original spielt Noahs Familie hier nur am Rande eine Rolle, denn Anders Noah plant seine gesamten Mitbürger mitzunehmen und hat zu diesem Zweck in jahrelanger Arbeit eine stolze Flotte von hundert Archen entworfen. Doch unabhängig aller Mühen Noahs und seiner Warnungen zum Trotz schafft er es nicht seine Mitmenschen von der drohenden Gefahr zu überzeugen. In Folge dessen zerreißt er die Pläne und wirft sie seinem Gotte hin.
Die Geschichte wurde 1961 erstmalig publiziert und entstand vor dem Hintergrund des “Kalten Krieges” und der damit verbundenen, anhaltenden, atomaren Aufrüstung zwischen Ost und West. Anders gilt im übrigen heute als einer der Mitbegründer der internationalen Anti-Atomkraft-Bewegung, welche sich im Laufe der 70er Jahre formierte. Günther Anders warnt mit der Geschichte vor dem drohenden nuklearen Holocaust.
In dem ersten Abschnitt klagt Noah seinem Gott sein Leid und bringt seine Ohnmacht darüber zum Ausdruck, trotz aller Bemühungen dem Ende der Menschheit, welches er in naher Zukunft kommen sieht, nichts entgegen setzen zu können. Für Anders steht der Inhalt der Zwiesprache seines Noah mit dessen Gott für die ungenügend beachtete nüchterne, wohl begründete Mahnung vor dem Ende allen menschlichen Seins durch die Menschheit selbst, bzw. durch die Atombombe.
Noah klagt aber nicht nur seine Mitbürger für ihre Untätigkeit direkt an; er richtet sich auch gegen Gott, welcher in diesem Zusammenhang stellvertretend für die “allmächtige Nation” steht. (Anders beschreibt in seinem Essay “Der Sprung” aus dem Jahr 1958, jene Nationen , welche über Atombomben verfügen als teilweise”allmächtige Nationen”, als Titanen, die über die Macht Verfügen die Apokalypse herbeizuführen.) Es lässt sich vermuten, dass er die “Titanen” dafür anklagt, dass seit Beginn des kalten Krieges, die Angst vor einem nuklearen Holocaust genutzt wurde, um politisches Kapital aus der Furcht zu schlagen. In erster Linie jedoch dafür, dass die politischen Kräfte überhaupt sich dem Mittel der atomaren Drohung bedient haben.
Um seinen eigenen Warnungen genügend Bedeutung zu Verleihen, beschließt Noah in der Geschichte die Schwächen seiner Mitmenschen zu nutzen:
“Die im Trug leben, die werde ich betrügen. Die verführt sind, noch einmal verführen. Die neugierig sind, noch neugieriger machen. [..] Und die ängstlich sind, (sollen) noch ängstlicher gemacht werden, bis sie teilhaftig werden der Wahrheit. Durch Gaukelei werde ich sie erschrecken. Und durch Schrecken zur Einsicht bringen. Und durch Einsicht zum Handeln. [..] Du (Gott) bist es, der mich gezwungen hat, mit fremder Stimme zu heulen, und Du, in dessen Auftrag ich meinen Frevel begehen werde.”
Das Theater, welches Noah im folgenden zu spielen beabsichtigt verfolgt das Ziel, auch dem letzen Bürger begreiflich zu machen, dass das Ende nur eine Frage der Zeit ist. Zu diesem Zweck kleidet er sich in Sack und Asche (das Totengewand und mit Asche beschmiertes Gesicht) und mimt einen trauernden und gebrochenen Mann. Den Frevel den Noah hiermit begeht, begründet sich darin, das er das Trauergewand trägt, obwohl im bis Dato niemand gestorben ist. Er betritt also die Straße und erhascht durch seinen Aufzug die Aufmerksamkeit der Leute, welche aus Mitgefühl, aber vor allem aus Neugierde sich um ihn herum sammeln und sich fragen, was ihrem Noah denn passiert sei.
Den Frevel den Günther Anders meint mit dieser Geschichte für Andere zu begehen, ist der, dass er das Bild der sicheren Apokalypse durch die Atomkraft zeichnet und sich für diesen Zweck eines biblischen Gleichnisses bedient. Vielleicht erhoffte Günther Anders sich eine größere Aufmerksamkeit für seine eigene Botschaft: Der Warnung vor dem Atom.
In der Hauptszene der Geschichte steht Noah nun auf der Straße, umringt von Schaulustigen. Auf den Balkonen drängen sich die Gaffer und fünf Fromme, aus dem Tempel kommend machen vor ihm halt:
“Dir ist jemand gestorben? erkundigte sich schonend der Erste. Noah schien aus der Starre seines Schmerzes erst erwachen zu müssen. ‘Ob mir jemand gestorben ist?’ wiederholte er langsam. Und nach einer Weile ohne aufzublicken: ‘Siehst du das denn nicht?’
Die Fünf nickten teilnehmend. ’Was hat er gesagt?’ rief einer der Zuschauer schallend hinunter. ‘Ihm ist einer gestorben!’ rief einer von der Straße schallend hinauf. ‘Das sehen wir alleine!’ kam es von Oben. ‘Aber wer?’
‘Wer ist dir denn gestorben?’ erkundigte sich da sanft der Zweite. ‘Wer mir gestorben ist?’ wiederholte Noah langsam. Und nach einer Weile, ohne aufzublicken: ‘Weißt du denn das nicht? Viele sind mir gestorben.’ Die Fünf gaben einander fragende Blicke.
‘Was hat er da gesagt? kam es schallend von Oben. ‘Viele sind ihm gestorben, hat er gesagt!’ rief der Dolmetsch ebenso schallend hinauf. Da wurde es oben unruhig: ‘Namen!’ rief einer, und ‘Wer sind denn diese Vielen?’ ein Anderer.
‘Wer sind denn diese Vielen?’ erkundigte sich da der Dritte voller Mitleid. ’Wer diese Vielen sind?’ wiederholte Noah langsam. Und nach einer Weile, ohne aufzublicken: ‘Weißt du denn das nicht? Wir alle sind diese Vielen.’ Die Fünf runzelten die Stirn.”
Noah erntet Gelächter und Rufe aus den Rängen über der Straße. Auf die Frage, wann und wie dieses denn geschehen sein soll und wie so etwas überhaupt möglich sei, antwortet Noah:
“Weißt du denn das wirklich nicht? Weil es morgen etwas sein wird, was geschehen ist![..] Übermorgen wird die Flut etwas sein, was gewesen ist [..] Wenn die Flut übermorgen etwas sein wird, was gewesen ist, dann heißt das: dies hier, nämlich alles, was vor der Flut gewesen, wird etwas sein, was niemals gewesen ist. Weil es,..wenn die Flut morgen kommt, fürs Erinnern zu spät sein wird und zu spät fürs Betrauern. Und weil es dann niemanden mehr geben wird, der sich unser wird ersinnen können, und niemanden, der uns wird betrauern können. Nein, niemanden. [..]Weil kein Unterschied sein wird, zwischen den Weinenden und Beweinten, weil die Totenkläger in den Wassern dahintreiben werden neben den Toten, die Segnenden neben den zu Segnenden, die Zukünftigen neben den Gewesenen.”
Anders lässt seinen Noah die Totenklage für diejenigen anstimmen, die morgen sterben werden und für die niemals werden existiert haben. Was in der Geschichte dazu führt, dass der lachende Pulk auf der Straße Stück für Stück verstummt. Noah Schafft es den Mantel der Furcht über seine Mitbürger zu werfen, welche in einer Starre des Entsetzens verharren bis er seine Hand ausstreckt, um zu prüfen, ob es denn schon regnet. Er entlässt seine Gefangenen mit den Worten:
“Noch ist es Zeit! Es ist heute! Die Vorstellung ist beendet.
Der Mahner verschwindet ebenso plötzlich, wie er auf der Straße erschien, wieder in seinem Haus. Kaum hat dieser den Plan für seine neue Arche fertig gestellt, klopft einer seiner Mitbürger nach dem anderen an seine Tür und wünscht bei dem Bau mitzuhelfen, auf dass das prophezeihte Ende der Menschheit unwahr werde…
Die Mahnung von Günther Anders ist klar: Wenn nicht jeder Mensch auf unserer Erde den Schrecken wenigsten versucht zu begreifen, den die Atombombe, bzw. die Atomkraft vermag über uns zu bringen, so ist es nur eine Frage der Zeit, wie lange “das letzte Zeitalter der Menschheit” (Vorwort der Essaysammlung: Die atomare Drohung, 1981), das Atomzeitalter, dauern wird. Anders widmete sich der den Ursachen der “Apokalypseblindheit” besonders stark und grundlegend in seinen Essays, die er zwischen 1956 und 1967 verfasst hat. Hauptsächlich dreht sich bei ihm die nukleare Bedrohung der Menschheit um atomare Waffen, also Atombomben, bzw. Wasserstoffbomben. Im Vorwort seines Bandes “Die Antiquiertheit des Menschen I” (Auflage von 1981) lenkt er den Blick aber auch auf die Bedrohung der vermeintlich friedlichen Nutzung der Atomkraft, ohne diese jedoch weiter auszuführen.
Die originale Bibelgeschichte im Vergleich:
Die Geschichte von Noach(Noah) und der Sintflut wird in dem Buch Genesis, in Kapitel 6-8 erzählt. Dieses Buch ist sowohl teil der Christlichen, wie der jüdischen Religion und bilden somit einen Teil des Alten Testament, wie einen Teil der Tora.
Im Original ist es nur Noah der Gnade vor dem Herrn findet und dazu aufgefordert wird mit seiner Frau, seinen Söhnen und der deren Frauen die Arche zu besteigen. Alle anderen Menschen will Gott vertilgen. In der Geschichte “Die beweinte Zukunft” nimmt Anders nur einmal Bezug auf Noahs Familie, nämlich als er Noah den Anschein erwecken lässt, dass vermutlich einer seiner Söhne gestorben sei (durch sein mit Asche beschmierte Gesicht). In Anders Version hat Gott den Wunsch geäußerst, dass alle Menschen, und sei es am Vorabend der Apokalypse, sich selbst erretten mögen. Auf die Tiere wird hier nur insofern Bezug genommen, dass Anders Noah auf das Umland zeigt und prophezeit, dass ALLES zu verschwinden droht (Also die Zerstörungskraft der Atombomben nichts verschonen wird). Beim Lesen der “beweinten Zukunft” entsteht der Eindruck, dass es sich bei der Erzählung um Ereignisse, parallel zur Orginalgeschichte handeln könnte. Es fallen jedoch gleichzeitig wesentliche, bereits beschriebene, Variationen der Storyline auf. Die von Günther Anders Erzählung endet mit der Rekrutierung von Helfern, die Einfluss auf das Überleben der Menschheit nehmen wollen und dem Beginn des Baus DER ARCHE. Somit gliedert er seine Weise wieder an das Buch Genesis an und erweckt ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Gesamtwerk.